Praktisches & Grundsätzliches zur Informatik

Spekulative Physik (als Wissenschaft), Stringtheorie, Brian Greene

Spekulative Physik:  Ihr Wesen und Wert

Spätestens seit Isaac Newton ist die Physik (als Wissenschaft) beides:

Experimentalphysik einerseits und Theoretische Physik andererseits.


Bis hin zu Einstein allerdings war die Theoretische Physik nur dazu da, die Ergebnisse experimenteller Physik zu ordnen, zueinander in Beziehung zu setzen und so ihrem Wesen nach zu erklären.

Einsteins Idee, die Gravitationskraft als Krümmung des 4-dimensionalen Raum-Zeit-Gefüges zu erklären, markiert den Anfang eines völlig neuen (Selbst-) Verständnisses der Theoretischen Physik: Mit Einstein — spätestens aber mit den String­theoretikern — hat die Theoretische Physik sich verselbständigt bis hin zu dem Punkt, ab dem Experimentalphysik ihr kaum noch folgen kann (und das einfach nur aufgrund rein praktisch gegebener Beschränkungen: Elektronenbeschleuniger zu bauen, die ähnlich groß sind wie eine ganze Galaxis, ist uns einfach nicht mehr möglich).

Ist es dann aber nicht an der Zeit, auch über das Wesen Theoretischer Physik neu nachzudenken? Sollte man sie nicht gegliedert sehen in

Dies zweite Teildisziplin — nennen wir sie Spekulative Physik (als Wissenschaft) — existiert derzeit in Form der M-Theorie (weniger genau: als das, was man auch Stringtheorie) nennt. Als die mit Abstand verständlichste Beschreibung ihres spekulativen Charakters ebenso wie der durch sie betrachteten Kern­fragen und schon erzielten Ergebnisse sehe ich Brian Greenes Buch The Hidden Reality, Vintage Books 2011.

Greenes Bücher und jene seiner Aufsätze, die sich an physikalische Laien richten, sind von besonderem Wert, da sie

Abstrakter betrachtet gilt: Spekulative Physik (als Wissenschaft) charakterisiert sich über die Eigenschaft, dass als einziger Maßstab für die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit ihrer Ergebnisse der Grad zur Verfügung steht, in dem durch sie erarbeitete physikalische Weltmodelle schon bewährte Modelle verfeinern und von Widersprüchen befreien — das Ausmaß also, in dem sich diese neuen Modelle als logische Extrapolation dessen erweisen, was Experimentalphysik wirklich bestätigen kann.

Geschickte Spekulation — das Finden von Vermutungen also, die es dann logisch abzuklopfen gilt, — waren schon immer wichtiger Schritt hin zu jeder nicht ganz trivialen Entdeckung. Wo Experimentalphysik an ihre Grenzen gerät, kommt solch gedanklichem Vorfühlen noch weit mehr Bedeutung zu: Denkbares zu denken wird dann nämlich konkurrenzlos in seiner Eigenschaft, erster Schritt hin zu neuer Erkenntnis zu sein.

Genau aus diesem Grund sollte man Kritiker der Stringtheorie, die nur damit argumentieren, dass Erkenntnisse der M-Theorie, die über vorher schon Bekanntes hinausgehen, durch die Experimentalphysik noch nicht bestätigt seien, überhaupt nicht ernst nehmen.

Wirklich erstaunlich ist, dass Mathematik uns so ausnehmend guter Führer hinein in komplexeste physika­li­sche Zusammenhänge ist. Kann das wirklich Zufall sein?

Sein Buch The Hidden Reality widmet Greene vor allem der Frage, ob das Universum, in dem der Mensch existiert, wirklich schon das allumfassende ist. Diese Frage genauer zu diskutieren sollte man unterscheiden zwischen

Ganz offensichtlch ist unser Universum ein Teil des gesamten Universums. Gilt aber auch die Umkehrung, d.h. könnte unser Universum schon das ganze sein?

Erst durch die Stringtheorie nahegelegte Weltmodelle haben dazu geführt, dass die Physiker (und Greenes Buch) inzwischen schon über sieben denkbare Situationen diskutieren, die sämtlich zu einer Verneinung dieser Frage führen. Hier ein Beispiel:

M-Theorie legt nahe, dass das gesamte Universum ein 11-dimensionaler Raum ist. Nur drei (von derzeit schon acht) Möglichkeiten, wie unser Universum darin eingebettet sein könnte, wären die folgenden:

Greene diskutiert noch weitere, nicht ganz so naheliegende Möglichkeiten, darunter auch solche, aus denen sich ergäbe, dass die Physik des gesamten Universums eine weit kompliziertere ist als die unseres Universums.

Interessant ist auch, dass — falls die Größe des Gesamtuniversums die Größe unseres (Sub-) Universums um ein bestimmtes, sehr großes Vielfaches überschreitet — die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass neben unserem Universum exakte Kopien davon existieren (und die sich sogar überlappen könnten): Greenes gedanklicher Weg dahin erscheint mir (als Mathematiker) aber nicht so ganz schlüssig. Interessierte Leser mögen sich selbst ein Urteil bilden, indem sie die Kapitel 1 und 2 seines Buches lesen.

Wer sich vor Augen führt, dass sich kein Signal schneller verbreiten kann als das Licht (und wer akzep­tiert, dass dessen Geschwinkdigkeit konstant ist), der wird sich wundern, dass die Physiker überhaupt auf den Gedanken kommen, unser Universum könne weniger sein als das gesamte Universum. Zwei Gründe sich hierfür maßgebend:

Führt man sich vor Augen, dass die Theoretische Physik sich heute (als wissenschaftlich betriebene spekulative Physik) in Bereiche vorwagt, in denen sie eher nicht mehr auf die Unterstützung der Experimentalphysik hoffen kann, so wird schnell klar, dass das Einzige, was ihr an Hilfsmitteln bleibt, die Mathematik ist — was aber nur dann gut gehen kann, wenn wirklich im gesamten Universum identische mathematische Gesetze gelten. Sind dann aber nicht eigentlich sie das letztendlich fundamentalste Gesetz des Universums? Bisher — so scheint mir — hat sich diese Frage noch niemand so wirklich gestellt.


Schlusswort:

Spekulative Physik (im oben definierten Sinn) scheint mir ein erstes Beispiel dafür, dass die Informatik — hier noch als Mathematik — auf dem besten Wege ist, sich zu verselbständigen: Sie mausert sich von einer anderen Wissenschaften nur dienenden Methodik zu etwas, das den Menschen unerwartet schnell aus seiner ersten, relativ primitiven Epoche heraus führt hin in eine Zukunft, in der seine Fähigkeit, logisch zu denken, ganz sicher eine noch weit zentralere Rolle spielen wird als bisher.

Wenn die Stringtheorie nicht völlig daneben liegt, und wenn es wirklich ein Universum gibt, in dem das unsere sich nur als einer von vielen kleineren Teilräumen wiederfindet, so wäre dadurch gezeigt, dass Mathematik ein Weg — und wirklich der einzige Weg — ist, der uns gestattet, über die ansonsten unüberwindlichen Grenzen unseres Weltalls hinweg den Rest des Gesamtuniversums einzusehen und wenigstens seinen Eigenschaften nach tatsächlich kennen zu lernen. Welch ein Gedanke!



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