Multiversum nach Lee Smolin
Lee Smolins Vorstellung vom Multiversum
Da die Vermutung, dass der Kosmos ein Multiversum darstellt,- noch nicht sehr alt ist (noch im 20. Jahrhundert sprach niemand davon),
- durch Experimentalphysik grundsätzlich nicht verifizierbar ist,
- uns aber durch mathematische Sachverhalte nahegelegt wird (durch gewisse Lösungen von Einsteins Gravitationstheorie und viel nachdrücklicher noch die Stringtheorie)
Lee Smolin etwa argumentiert wie folgt:
Dass im All jede Menge sog. Schwarze Löcher existieren, ist heute — ganz anders als noch vor wenigen Jahrzehnten — eine weitgehend anerkannte Tatsache. Sie sind nicht direkt beobachtbar, wohl aber durch die gravitative Wirkung auf Himmelskörper, die sich in ihrer Nähe, aber doch weit außerhalb ihres Ereignishorizonts finden.
Noch ungeklärt ist die Frage, um welche Art astrophysikalischer Objekte es sich bei Schwarzen Löchern denn nun genau handelt (und welcher Natur mit ihnen in Verbindung gebrachte Gamma-Ausbrüche sind).
Insbesondere steht die Frage im Raum,
- ob es sich bei Schwarzen Löchern nur um extrem dichte, stark gekrümmte Bereiche unseres Universums handelt
- oder ob nicht vielleicht in ihrem Inneren ein raumzeitlicher Abkaspelungsprozess stattfindet, der etwas entstehen lässt,
das man als Tochteruniversum (unseres Universums) sehen könnte.
In diesem Fall müsste man dann wohl annehmen, dass auch unsere Welt Tochter eines anderen, älteren Universums ist.
Insbesondere wäre dann jedes Schwarze Loch zu sehen als ein Portal, das in ein neues, jüngeres Universum führt. In ihm, so denkt man, könnten die Grundkonstanten der Physik mehr oder weniger modifizierte Werte haben, so dass sich dort auch physikalische Phänome zeigen könnten, die es im Mutteruniversum nicht oder nur weit seltener gibt.
Eine endgültige Klärung dessen, was in nächster Nähe jener Singualitäten vor sich geht, steht noch aus und wird so schnell wohl auch nicht zu erarbeiten sein. Dennoch versuchen mehr und mehr Vertreter der Theoretischen Physik darüber zu spekulieren — immer ausgehend von Stringtheorie oder von dem, was man an Bausteinen einer zukünftig erwarteten Theorie der Quantengravitation schon zusammengetragen hat.
Besonders kreativ in dieser Richtung ist Lee Smolin. Er nimmt an, dass jedes Tochteruniversum sich zu einem Universum wie dem unseren etwickeln kann und dass auch unser Universum auf diese Weise entstanden ist.
Seine Idee ist zu unterscheiden von der eines kosmischen Abpralls (im Sinne von Bojowalds Theorie (?)) denn dort spricht man ja einfach über eine Umkehr der Ausdehnung eines einzigen Universums. Smolins Theorie entsprechend werden neue Universen aus schon vorhandenen geboren wie Menschen aus ihrer Mutter. Auf diese Weise entsteht — bzw. entstand — eine sich stark verzweigende Raumzeit ausgesprochen komplexer Struktur: Jedes Schwarze Loch wäre sozusagen "Gebärmutter" eines neuen Universums, welches dann seinerseits Schwarze Löcher hervorbringen kann.
Ein weiterer Unterschied zum kosmischen Abprall ist, so sagt Bojowald, dass man für eine Diskussion von Tochteruniversen notwendigerweise einen theoretischen Standpunkt außerhalb der Raumzeit einnehmen muss. Wir, die wir in einem dieser Universen leben, müssen uns entscheiden
- für den Verbleib außerhalb aller Schwarzen Löcher
- oder den Sturz hinein in ein ganz bestimmtes dieser Tochteruniversen.
An dieser Stelle kommt Smolins Einsicht bzw. Vermutung ins Spiel. Er nämlich denkt, dass es dennoch beobachtbare Konsequenzen eines solch wiederholten Abspaltungsprozesses geben könnte. Dazu müsse man lediglich annehmen, dass sich in jedem der Tochteruniversen leicht abgeänderte Werte für die Naturkonstanten ergeben können.
Er vermutet, dass es sich hier um einen mit der Evolution biologischer Wesen vergleichbaren Prozess handelt: Mutation gepaart mit Selektion:
- Wenn sich bei jedem Tochteruniversum etwas andere Naturkonstanten (sprich: Eigenschaften des Universums) ergeben, so hat man Mutation.
- Selektion — im statistischen Sinne verstanden, nicht in dem der Überlebensfähigkeit — trete auf, da ja die Reproduktionsrate durch Schwarze Löcher
im Tochteruniversum den dort herrschenden physikalischen Gesetzen unterworfen sein wird.
Die Chandrasekhar-Grenze etwa, die die maximal mögliche Masse eines Weißen Zwerges bestimmt, hängt von Naturkonstanten ab (wie z.B. der Größe des Planckschen Wirkungsquantums oder der Newtonschen Gravitationskonstanten). Deren Wert beeinflusst dann auch die Wahrscheinlichkeit, mit der es zur Bildung von Schwarzen Löchern kommt und somit zur Bildung von Tochteruniversen.
Statischtisch gesehen sollten wir Menschen uns in einem Universum bewegen, das eher typische Qualität hat, das heißt, in einem, dessen Art sich besonders häufig ergibt, da sie besonders bereitwillig Nachkommen zeugt. Nachwuchs entsteht (hier) durch Schwarze Löcher. Wenn unser Universum also typisch sein sollte, müsste es viele Schwarze Löcher hervorbringen. Genau das aber scheint wirklich der Fall zu sein. [Vorsicht aber: Woher wollen wir wissen, was "viele" Schwarze Löcher sind?]
Da entsprechende Abschätzung schwierig ist, muss man damit leben, dass alle bislang unternommenen Rechnungen stark umstritten sind.
Note: Sollte Smolin recht haben, würde das keineswegs bedeuten, dass nicht parallel dazu auch andere Vorstellungen vom Multiversum zutreffen: Es gibt eben sehr viele Möglichkeiten und so gut wie sicher auch solche, an die bisher noch niemand auch nur im Entferntesten gedacht hat.
Quelle:
- Martin Bojowald: Seite 237-241 seines Buches
Zurück vor den Urknall, Fischer Taschenbuch Verlag, 2012
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