Praktisches & Grundsätzliches zur Informatik

Wesen der Mathematik

Mathematik im Spannungsfeld von Physik und Informatik

Unter Mathematik versteht man zweierlei:

Mathematische Gesetzmäßigkeiten existieren unabhängig davon, ob der Mensch sie je endeckt hat. Damit sind sie mehr als nur ein Gedankengebäude: sie sind ganz eindeutig Teil der Schöpfung, d.h. Teil real existierender Physik. Als Methodik aber ist die Mathematik reine Informationsverarbeitung und daher Teil der Informatik (jener Teil, der zu 100% exakt sein möchte).

Die Mächtigkeit der Informatik kommt nicht zuletzt aus dem weiten Spektrum der durch sie zugelasse­nen und unterstützten Wege des Denkens:

Mathematisches Vorgehen deckt nur ein kleines Intervall dieses methodischen Spektrums ab. Hier drei Tatsachen, die zudem belegen, dass einige Teile der Informatik sich exakterer Methoden bedienen als selbst große Teile der Mathematik das tun:

Das also zur Verlässlichkeit heute üblicher mathematischer Denkwerkzeuge!

Mit ablauffähigen Programmen – ganz gleich, in welcher Programmiersprache sie geschrieben sind – ist es unmöglich, sich auf solch gedankliches Glatteis zu begeben. Zugegeben: Durch Programme produzierte Wirkung ist keineswegs immer die vom Autor erwartete, wird aber stets eine wirklich existierende sein, und zwar genau die, die der Code beschreibt. Dies eröffnet die Möglichkeit auto­ma­tisch gesteuerter Fehlersuche. Nicht konstruktive Mathematik kennt nichts Vergleichbares.



Letztlich ausgelöst durch Russels eben skizzierte Beobachtungen kam es Anfang des 20. Jahrhun­derts zur sog. Grundlagenkrise der Mathematik. Dieser Richtungskampf ist bis heute nicht wirklich entschieden: Arbeiten von Russel, Gödel und Gentzen haben zwar die Fronten geklärt, das Abwürgen der Diskussion aber, das 1936 politisch einflußreiche Mathematiker herbeigeführt hatten, war letztlich wohl schon des­wegen notwendig, weil konstruktive Mathematik nur mit Hilfe von Papier und Bleistift zu betreiben viel zu arbeitsaufwendig, viel zu unübersichtlich und daher gar nicht wirklich praktikabel gewesen wäre. Wir werden darauf gleich noch mal zurückkommen.


Vorher aber ein Ausflug in die theoretische Physik:

Der allseits geachtete Physiker Steven Hawking scheint zu denken, jedes mathematische Modell sei auch ein physikalisches. In seinem Papier Godel and the End of Physics schreibt er 2002: "... if there are mathematical results that can not be proved, there are physical problems that can not be predicted."

Man könnte jetzt aber gut der Meinung sein, dass nur von Modellen der konstruktiven Mathematik mit absoluter Sicherheit behauptet werden kann, sie seien auch physikalische Modelle (von Modellen also, die man in Form von Code notieren kann; erst dadurch nämlich werden sie anfassbar und als existierend beobachtbar).

Ein Vergleich der Ergebnisse von Kurt Gödel einerseits und Gerhard Gentzen sowie Paul Lorenzen andererseits zeigt meiner Ansicht nach deutlich, dass konstruktive und nicht konstruktive Modelle grund­sätzlich verschiedener Natur sind. Der Unterschied besteht darin, dass viele Ergebnisse indirekter Beweis­führung schon ihrer Natur nach nicht Ergebnis rein konstruktiver Mathematik sein können. Es bleibt offen, ob man auch sie als mathematische Wahrheiten sehen kann, die mehr sind als nur eine gedankliche Kon­struktion.

Wir sehen: Die zu Beginn dieser Seite aufgestellte Behauptung "mathematische Gesetzmäßig­keiten" be­treffend, ist keineswegs so unangreifbar, wie oben suggeriert; es müsste erst mal geklärt sein, was genau man denn nun wirklich unter einer "unabhängig vom menschlichen Denken existieren­den mathematischen Wahrheit" verstehen darf. Der Satz von Phytagoras etwa ist mit Sicherheit eine. Aber liegt die richtige Einordnung immer so nahe? Gibt es mathematische Objekte, die nur rein gedanklich existieren (also nicht essenziell sind)? Könnte alles, was mit dem Begriff "unendlich" zu tun hat, von dieser Art sein?

Anders gefragt: Gibt es eine klare Grenze zwischen mathematischer Gesetzmäßigkeit einerseits und dem, was man lediglich als Methodik einzuordnen hat?

Sinn macht diese Frage natürlich nur dann, wenn man das menschliche Denken nicht auch selbst als einen rein physikalischen, allein durch die Naturgesetze getriebenen Vorgang begreift. Aber wäre es dann nicht komplett deterministisch?


All das scheint nahezulegen:
Lorenzen hat 1962 (in seinem Buch Metamathematik) eine nachweislich widerspruchsfreie Logik prä­sentiert. Sie gilt als Beweis dafür, dass der gödelsche Unvollständigkeitssatz keinen Einwand gegen einen widerspruchsfreien Aufbau der Mathematik darstellt.

Damit war bestätigt, was Gentzen schon vorher wusste: Konstruktive Mathematik und Logik können durchaus widerspruchsfrei sein – Gentzen bewies die Widerspruchsfreiheit der Zahlentheorie und gilt nicht zuletzt deswegen als Mitbegründer der modernen mathematischen Beweistheorie. Die nachhaltige Bedeutung der von ihm entwickelten Methoden, Regeln und Strukturen zeigt sich vor allem auf dem Gebiet der Programm­verifikation. Hierbei werden formale Beweise selbst als Programme gedeutet, konstruieren also anfassbare Modelle (etwas, das man auch als real existierende Physik verstehen könnte).



Nicht nur die Fähigkeiten moderner Computer, sondern vor allem auch die zahlreichen neuen, durch die Informatik unterstützten Methoden zu denken und Wissen zu verarbeiten, ergänzen wesentlich die ganz andersartigen Wege, die zuvor jede Wissenschaft speziell nur für den eigenen Gebrauch entwickelt hat. Es ist nicht auszuschließen, dass sich hierdurch bislang schmale Denkwege zu wirklichen Autobahnen des Denkens entwickeln werden.

Wer schon mal gesehen hat, um wieviel mächtiger und nützlicher ein Computerprogramm werden kann, wenn jemand, der den Code genau kennt, auch nur kleinste Änderungen zum Positiven daran vornimmt, wird verstehen was ich meine:

Wo Wissen in Form ablaufbarer Programme notiert ist,
kann man es ungleich schneller fortentwickeln als je zuvor.

Für Mathematiker bedeutet das, dass sie vielleicht doch versuchen sollten, ihr Glück erneut auch in konstruktiver Mathematik zu finden. Zunehmend mächtigere Computer geben ihnen mehr und mehr die Möglichkeit dazu (natürlich nur dort, wo es um Modelle geht, die nicht unendlich viele Teile haben).



Ob nicht-konstruktive Mathematik sich wirklich nur dort aufs Glatteis begibt, wo sie (direkt oder indirekt) auf sich selbst bezogene Aussagen betrachtet oder zur Definition neuer Begriffe nutzt, ist bis heute ungeklärt. Wer kann helfen, diese Frage zu beantworten? Könnte sie unentscheidbar sein? 1993 dachte Stephen Yablo, die Antwort gefunden zu haben. Sein Beweis aber ist nicht schlüssig (siehe Yablo's Paradox).

Auf sich selbst Bezug nehmende Aussagen grundsätzlich gar nicht zu betrachten, wäre i.A. nicht sinnvoll: Solche Aussagen entsprechen nämlich Gleichungssystemen, und wie wir alle wissen, gibt es Gleichungs­systeme, die keine Lösung haben; es gibt aber auch welche, die genau eine Lösung haben (oder gar mehrere Lösungen).

Wer also versucht, ein Konzept zu definieren, der hat auf jeden Fall zunächst zu untersuchen, ob diese Definition denn auch wirklich mindestens eine Lösung hat. Ansonsten könnte es ihm gehen wie jenem unglücklichen Doktoranden, dessen Dissertation unendlichdimensionale lokal­kompakte Vektor­räume zum Gegenstand hatte – einen Gegenstand also, der gar nicht existiert (nach Andre Weil: Basic Number Theory, Springer-Verlag New York 1973, Seite 6, Corollary 2, hat nämlich jeder lokal­kompakte Vektorraum nur endlich viele Dimensionen). Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll, wie schwierig selbst mathematische Definitionen als in sich widersprüchlich erkennbar sein können.



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