Mathematik im Spannungsfeld von Physik und Informatik
Unter Mathematik versteht man zweierlei:- die Gesamtheit aller mathematischen Gesetzmäßigkeiten einserseits
- und des Menschen Methodik, sie zu finden, zu formulieren und anzuwenden andererseits.
Die Mächtigkeit der Informatik kommt nicht zuletzt aus dem weiten Spektrum der durch sie zugelassenen und unterstützten Wege des Denkens:
- Auf der einen Seite stellt die Informatik Wege bereit, mit bis ins letzte Detail hinein eindeutiger Aufschreibung zu arbeiten (sog. Programmcode).
Die Wirkung konkreter Programme ist zwar selten vollständig bekannt, das aber liegt nur daran, dass man sich kaum je die Zeit nimmt, genau genug hinzusehen:
Wer es darauf anlegt, kann die Wirkung gegebenen Codes wirklich bis ins letzte Detail genau erkennen.
Sie ist beobachtbar, zuverlässig reproduzierbar, und Widersprüche darin sind undenkbar.
- Auf der anderen Seite aber lösen Informatiker Aufgaben, die zu lösen mit rein formalen Mitteln absolut unmöglich ist. Sie zu lösen erfordert diszipliniertes Denken unter Verzicht auf allzu große Genauigkeit (eine Methodik, wie sie charakteristisch ist für die Arbeit erfolgreicher Ingenieure). Beispiel: Eine brauchbare Anforderungsanalyse für die Modernisierung oder den Neubau einer komplexen DV-technischen Landschaft etwa wird niemals über einen Weg produzierbar sein, den man – bis ins letzte Detail hinein – ein zweites Mal exakt so und mit eben demselben Ergebnis gehen könnte.
-
[Argument 1]: Wenig bekannt ist, dass selbst mathematisches Denken nur dort wirklich exakt ist, wo es um die Lösung von Gleichungen oder die Anwendung von Formeln und Rechenregeln geht –
nur dort also, wo sie konstruierend arbeitet. Der überwiegende Teil der Mathematik aber besteht aus der Definition von Begriffen und dem Führen von Beweisen (oft auch
indirekter, also nicht konstruierender Art).
Mathematische Beweise im Bereich nicht konstruktiver Mathematik sind aber nur Zerlegung großer Gedankensprünge in zunehmend kleinere bis hin zu einem Punkt, an dem der Zuhörer der Meinung ist, jeder dieser kleinen Gedankensprünge bedürfe keines Beweises mehr, sondern behaupte offensichtlich Wahres. Wo dieser Punkt erreicht ist, muss subjektiv entschieden werden und hängt sehr von der Vorbildung des Zuhörers ab sowie von seiner Kritikfähigkeit.
- [Argument 2]: Wichtigstes Beweiswerkzeug der Mathematiker ist der sog. Beweis durch Widerspruch: Man nimmt an, die zu beweisende Aussage A sei falsch,
leitet daraus einen Widerspruch ab,
und sagt schon dann, dass damit gezeigt sei, A müsse wahr sein. Die Gefahr, dass auch die Annahme, A sei wahr, auf einen Widerspruch führen könnte,
vernachlässigt man bewusst (da man sie als extrem gering einschätzt).
Bertrand Russel (1872-1970) aber hat gezeigt, dass es solche Fälle dennoch gibt:
Sei A die Aussage "Diese Aussage ist falsch".
Man sieht sofort: Die Annahme, A sei richtig, führt ebenso zu einem Widerspruch, wie die Annahme, A sei falsch. Somit ist A eine Aussage, der sich kein Wahrheitswert zuordnen lässt. In Verallgemeinerung dieses Beispiels kann man zeigen, dass es zu jeder positiven ganzen Zahl N eine Menge von N Aussagen gibt, derart dass jede Bewertung irgend einer dieser Aussagen durch wahr oder falsch zu einem Widerspruch führt.
Beispiel für N=2: Die folgende Aussage ist falsch. Die vorangehende Aussage ist richtig.
- [Argument 3]: Russel hat zudem gezeigt, dass neben Aussagen auch Definitionen – solche, wie fast jeder moderne mathematische Beweis sie
enthält – absolut unbrauchbar sein können. Die wohl am häufigsten anzutreffenden mathematischen Definitionen sind Definitionen der Art
Sei M die Menge aller Objekte der folgenden Eigenschaft: ...
Russels Beispiel war:
Sei M die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten.
Er betrachtete dann die Frage, ob M sich selbst als Element enthält und stellt fest: Welche Antwort auch immer man gibt, sie führt zu einem Widerspruch. Diese Definition ist demnach unbrauchbar. Und wieder gilt: Die Tatsache, dass eine solche Definition keinerlei Sinn macht, kann beliebig schwierig zu erkennen sein.
Mit ablauffähigen Programmen – ganz gleich, in welcher Programmiersprache sie geschrieben sind – ist es unmöglich, sich auf solch gedankliches Glatteis zu begeben. Zugegeben: Durch Programme produzierte Wirkung ist keineswegs immer die vom Autor erwartete, wird aber stets eine wirklich existierende sein, und zwar genau die, die der Code beschreibt. Dies eröffnet die Möglichkeit automatisch gesteuerter Fehlersuche. Nicht konstruktive Mathematik kennt nichts Vergleichbares.
Letztlich ausgelöst durch Russels eben skizzierte Beobachtungen kam es Anfang des 20. Jahrhunderts zur sog. Grundlagenkrise der Mathematik. Dieser Richtungskampf ist bis heute nicht wirklich entschieden: Arbeiten von Russel, Gödel und Gentzen haben zwar die Fronten geklärt, das Abwürgen der Diskussion aber, das 1936 politisch einflußreiche Mathematiker herbeigeführt hatten, war letztlich wohl schon deswegen notwendig, weil konstruktive Mathematik nur mit Hilfe von Papier und Bleistift zu betreiben viel zu arbeitsaufwendig, viel zu unübersichtlich und daher gar nicht wirklich praktikabel gewesen wäre. Wir werden darauf gleich noch mal zurückkommen.
Vorher aber ein Ausflug in die theoretische Physik:
Der allseits geachtete Physiker Steven Hawking scheint zu denken, jedes mathematische Modell sei auch ein physikalisches. In seinem Papier Godel and the End of Physics schreibt er 2002: "... if there are mathematical results that can not be proved, there are physical problems that can not be predicted."
Man könnte jetzt aber gut der Meinung sein, dass nur von Modellen der konstruktiven Mathematik mit absoluter Sicherheit behauptet werden kann, sie seien auch physikalische Modelle (von Modellen also, die man in Form von Code notieren kann; erst dadurch nämlich werden sie anfassbar und als existierend beobachtbar).
Ein Vergleich der Ergebnisse von Kurt Gödel einerseits und Gerhard Gentzen sowie Paul Lorenzen andererseits zeigt meiner Ansicht nach deutlich, dass konstruktive und nicht konstruktive Modelle grundsätzlich verschiedener Natur sind. Der Unterschied besteht darin, dass viele Ergebnisse indirekter Beweisführung schon ihrer Natur nach nicht Ergebnis rein konstruktiver Mathematik sein können. Es bleibt offen, ob man auch sie als mathematische Wahrheiten sehen kann, die mehr sind als nur eine gedankliche Konstruktion.
Wir sehen: Die zu Beginn dieser Seite aufgestellte Behauptung "mathematische Gesetzmäßigkeiten" betreffend, ist keineswegs so unangreifbar, wie oben suggeriert; es müsste erst mal geklärt sein, was genau man denn nun wirklich unter einer "unabhängig vom menschlichen Denken existierenden mathematischen Wahrheit" verstehen darf. Der Satz von Phytagoras etwa ist mit Sicherheit eine. Aber liegt die richtige Einordnung immer so nahe? Gibt es mathematische Objekte, die nur rein gedanklich existieren (also nicht essenziell sind)? Könnte alles, was mit dem Begriff "unendlich" zu tun hat, von dieser Art sein?
Anders gefragt: Gibt es eine klare Grenze zwischen mathematischer Gesetzmäßigkeit einerseits und dem, was man lediglich als Methodik einzuordnen hat?
Sinn macht diese Frage natürlich nur dann, wenn man das menschliche Denken nicht auch selbst als einen rein physikalischen, allein durch die Naturgesetze getriebenen Vorgang begreift. Aber wäre es dann nicht komplett deterministisch?
All das scheint nahezulegen:
- Hawkings Idee, Gödels Unvollständigkeitssatz auf die Physik zu übertragen, macht nur dann Sinn, wenn man auch all jene mathematischen Objekte,
deren Existenz sich nur über Grenzprozesse und indirekte Beweisführung sicherstellen lässt, als physikalische Wirklichkeit anerkennt.
- Ob die Physik den Begriff unendlich überhaupt kennt, scheint eine offene Frage: Es könnte durchaus sein, dass sämtliche Dimensionen des Kosmos gekrümmt und damit endlich sind — dies
würde aber keineswegs ausschließen, dass er sich ständig ausdehnt in dem Sinne, dass immer größere Zahlen notwendig werden, seinen Zustand zu beschreiben.
- Nur konstruktive Mathematik (da garantiert widerspruchsfrei) verdient, exakt genannt zu werden. Man sollte daran arbeiten, sie gut praktizierbar zu machen. Hierfür müsste man zunächst lernen, sie grundsätzlich computer-unterstützt zu betreiben.
Damit war bestätigt, was Gentzen schon vorher wusste: Konstruktive Mathematik und Logik können durchaus widerspruchsfrei sein – Gentzen bewies die Widerspruchsfreiheit der Zahlentheorie und gilt nicht zuletzt deswegen als Mitbegründer der modernen mathematischen Beweistheorie. Die nachhaltige Bedeutung der von ihm entwickelten Methoden, Regeln und Strukturen zeigt sich vor allem auf dem Gebiet der Programmverifikation. Hierbei werden formale Beweise selbst als Programme gedeutet, konstruieren also anfassbare Modelle (etwas, das man auch als real existierende Physik verstehen könnte).
Nicht nur die Fähigkeiten moderner Computer, sondern vor allem auch die zahlreichen neuen, durch die Informatik unterstützten Methoden zu denken und Wissen zu verarbeiten, ergänzen wesentlich die ganz andersartigen Wege, die zuvor jede Wissenschaft speziell nur für den eigenen Gebrauch entwickelt hat. Es ist nicht auszuschließen, dass sich hierdurch bislang schmale Denkwege zu wirklichen Autobahnen des Denkens entwickeln werden.
Wer schon mal gesehen hat, um wieviel mächtiger und nützlicher ein Computerprogramm werden kann, wenn jemand, der den Code genau kennt, auch nur kleinste Änderungen zum Positiven daran vornimmt, wird verstehen was ich meine:
kann man es ungleich schneller fortentwickeln als je zuvor.
Für Mathematiker bedeutet das, dass sie vielleicht doch versuchen sollten, ihr Glück erneut auch in konstruktiver Mathematik zu finden. Zunehmend mächtigere Computer geben ihnen mehr und mehr die Möglichkeit dazu (natürlich nur dort, wo es um Modelle geht, die nicht unendlich viele Teile haben).
Ob nicht-konstruktive Mathematik sich wirklich nur dort aufs Glatteis begibt, wo sie (direkt oder indirekt) auf sich selbst bezogene Aussagen betrachtet oder zur Definition neuer Begriffe nutzt, ist bis heute ungeklärt. Wer kann helfen, diese Frage zu beantworten? Könnte sie unentscheidbar sein? 1993 dachte Stephen Yablo, die Antwort gefunden zu haben. Sein Beweis aber ist nicht schlüssig (siehe Yablo's Paradox).
Auf sich selbst Bezug nehmende Aussagen grundsätzlich gar nicht zu betrachten, wäre i.A. nicht sinnvoll: Solche Aussagen entsprechen nämlich Gleichungssystemen, und wie wir alle wissen, gibt es Gleichungssysteme, die keine Lösung haben; es gibt aber auch welche, die genau eine Lösung haben (oder gar mehrere Lösungen).
Wer also versucht, ein Konzept zu definieren, der hat auf jeden Fall zunächst zu untersuchen, ob diese Definition denn auch wirklich mindestens eine Lösung hat. Ansonsten könnte es ihm gehen wie jenem unglücklichen Doktoranden, dessen Dissertation unendlichdimensionale lokalkompakte Vektorräume zum Gegenstand hatte – einen Gegenstand also, der gar nicht existiert (nach Andre Weil: Basic Number Theory, Springer-Verlag New York 1973, Seite 6, Corollary 2, hat nämlich jeder lokalkompakte Vektorraum nur endlich viele Dimensionen). Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll, wie schwierig selbst mathematische Definitionen als in sich widersprüchlich erkennbar sein können.
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