Unser Zeitbegriff — der thermodynamische Zeitpfeil — entspringt der Tatsache, dass wir stets nur mit makroskopischen Variablen als Mittelwert sehr vieler mikroskopischer Variablen interagieren.
Sobald wir den Mikrozustand eines Systems betrachten, existiert das System — als eben dieser Zustand — zeitlos.
Doch kaum beschreiben wir das System anhand von Mittelwerten zahlreicher Variablen, verhalten sich diese Wert so, als existiere Zeit im Sinne unserer Alltagserfahrung.
[ Aber warum? Weil unvollständige Kenntnis Raum für's Dazulernen lässt und wir ständig Neues erfahren? ]
Die Zeit ist folglich kein Grundbestandteil der Welt, aber gleichwohl allgegenwärtig, da die Welt riesig ist und wir sie stets nur aus makroskopischer Sicht kennen.
Wörtlich schreibt Rovelli:
» Die Zeit ist eine Auswirkung der Tatsache, dass wir die physikalischen Mikrozustände der Dinge außer Acht lassen.
Die Zeit ist uns fehlende Information — sie ist unser Unwissen.
In Kapitel 7 habe ich gezeigt, dass sich der Begriff der Zeit für eine physikalische Beschreibung [ im Modell der Schleifen-Quanten-Gravitation ] erübrigt und es letztlich sogar besser ist, ganz auf ihn zu verzichten.
Hat man dies erst mal erkannt, wird es einfacher, die Gleichungen der Quantengravitation aufzustellen. «
In Kapitel 7 schreibt er:
Die Forschung der Quantengravitation drehte sich lange nur um Fragen des Raumes, ehe sie den Mut aufbrachte, sich der Zeit zuzuwenden. Erst ab etwa 2000 hat sich das Verständnis der Zeit etwas geklärt.
Der Raum als ein amorpher Behälter für die Dinge verschwindet mit der Quantengravitation aus der Physik. Die Dinge (Quanten) liegen nicht im Raum, sondern im Umfeld der jeweils anderen Quanten.
Der Raum ist das Gewebe ihrer nachbarschaftlichen Beziehungen.
Die Gravitationsquanten entwickeln sich nicht
in der Zeit, es entsteht vielmehr die Zeit als Folge ihrer Wechselwirkungen.
Wie sich in der Wheeler-DeWitt-Gleichung zeigt, ist die Zeit aus den Gleichungen verschwunden.
Wie der Raum sich als ständig ausgetauschtes Spin-Netzwerk darstellt (S. 191-195):
Die Graphen, die die
Quantenzustände des Raumes, d.h. des Gravitationsfeldes, beschreiben, nennt man
Spin-Netzwerke.
Sie sind durch ein Volumen V für jeden Knoten und ein ganzzahliges Vielfaches von 1/2 für jede Verbindungslinie gekennzeichnet (Spin).
Der Raum [ als Summe dieser Volumina V ] ist diskret. Diese Einsicht bildet den Kern der Theorie der Quantengravitation.
Zwischen den Photonen, d.h. den Quanten des elektromagnetischen Feldes, und den Raumquamten V besteht ein entscheidender Unterschied: Photonen existieren
im Raum, während Raumquanten den Raum selbst ausmachen.
Photonen sind durch ihre Position, ihr » Wo sie sich befinden, d.h. welche Raumquanten sie verbinden « charakterisiert, Raumquanten aber haben keinen Aufenthaltsort.
Die charakterisieren sich durch die Information, neben welchen anderen Raumquanten sie liegen.
Ich kann mir vorstellen, mich von einem Raumkörnchen an einem Link entlang zu einem anderen zu begeben. Wenn ich so Körnchen um Körnchen weiterschreite, bis ich zum Ausgangskörnchen zurückgekehrt, d.h. einen Rundweg gegangen bin,
habe ich eine Schleife — einen » Loop « — abgeschritten. Dies sind die ursprünglichen Loops der Theorie.
In Kapitel 4 habe ich gezeigt, dass sich die Krümmung des raumes messen lässt, indem man bestimmt, ob ein Pfeil, den man über den ganzen Weg mitgeführt hat, in seine ursprüngliche Zeigerichtung oder gedreht an
den Ausgangspunkt des Weges zurückkommt. Die Mathematik der Theorie bestimmt die Krümmung für jeden geschlossenen Weg im Spin-Netzwerk. Die ermöglicht eine Einschätzung der Krümmung des Raumes
und damit der Stärke des Gravitationsfeldes.
Es sei noch daran erinnert, dass
- die Art, wie sich ein Spin-Netzwerk entwickelt, zufallsgetrieben ist (wir können nur Wahrscheinlichkeiten berechnen).
- Auch müssen wir und den Austausch der Spin-Netzwerke als Auswirkung des Raumes auf die Dinge denken: So wie sich ein Elektron etwa an keinem bestimmten Ort, sondern als Wahrscheinlichkeitswolke an allen Orten befindet,
so ist auch der Raum kein spezifisches Spin-Netzwerk, sondern eine Wahrscheinlichkeitswolke über sämtliche möglichen Spin-Netzwerke.
Damit stellt der Raum sich — unterhalb der Planckskala — dar als
ein waberndes Gewimmel aus Gravitationsquanten, die
- wechselseitig aufeinander einwirken,
- alle gemeinsam auf die
Dinge einwirken
- und sich in dieser Wechselwirkung als ständig durch Quantenfluktuation umgebautes Spin-Netzwerk manifestieren
.
Quelle: Carlo Rovelli: Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint (2016), S. 276-281 und ab S. 196 bzw. 191