Quantenverschränkung offenbart nicht-lokale Ursache für echten Zufall
Der Quantenphysiker
Nicolas Gisin
hat sich besonders viel mit denkbaren Varianten der
Bellschen Ungleichung befasst
und beschreibt in seinem Buch
Der unbegreifliche Zufall (2014) etwas, das er das Bell-Spiel nennt.
Mit Hilfe diesen Spiels lässt sich zeigen, dass es nicht-lokalen Zufall gibt und der Ergebnisse haben kann, die selbst absoluter (lokaler) Zufall —
wie etwa die Zufälligkeit eines konkreten Ergebnisses einer lokalen quantenphysikalischen Messung — nicht abdecken kann:
Gisin (S. 68-69):
Für digitale Simulation verwenden Ingenieure häufig sog. Pseudozufallszahlen, so etwa in der Entwicklungsphase eines Flugzeugs:
Statt zahlreiche Prototypen herzustellen und auf ihr Flugverhalten hin zu testen, simulieren sie diese Prototypen auf Großrechnern
unter Verwendung von Pseudozufallszahlen.
Solcher Zufall ist simulierter Zufall ähnlich dem Zufall des Würfelspiels (dessen Ergebnisse ja auch nur deswegen zufällig aussehen, weil die wirklichen
Gründe für das Ergebnis eines Wurfs des Würfels — wie man sich per Chaostheorie erklären kann — zu kompliziert sind, um noch durchschaubar zu sein).
Grundsätzlich könnte man meinen, dass es beim Test von Flugzeugprototypen keinen Unterschied machen sollte, ob man Pseudozufallszahlen
oder echt zufällige Folgen von Zahlen verwendet. Das stimmt aber nicht:
Es gibt Prototypen, die sehr schlecht fliegen, obgleich ihre Simulation mit Pseudozufallszahlen keinerlei Schwächen fand.
Solche Fälle sind selten — aber es gibt sie, egal wie einfallsreich das die Pseudozufallszahlen erzeugende Programm auch war:
- Ferrenberg, Landau, Wong: Monte Carlo Simulations: Hidden errors from "good" number generators, Phys. Rev. Letters 1992, 69, 3382.
- Ossola, Sokal: Systematic errors due to linear congruential random-number generators with the Swendsen-Wang algorithm: A Warning, Phys. Review E, 2004, 70, 027701.
Verwendet man aber durch einen nicht-lokalen Quantenprozess erzeugte Zufallszahlen, so gibt es solche Störfälle nicht.
Es besteht also ein Unterschied zwischen dem scheinbaren Zufall des Würfelspiels und dem echten Zufall, ohne den es nicht möglich ist, im Bell-Spiel
zu gewinnen (wenn keine Kommunikationsmöglichkeit besteht).
Das Bell-Spiel S = ( n, A, B )
Sei n ein natürliche Zahl und seinen A und B zwei Abbildungen der Zahlen 1 bis 4n auf Paare ( e,a ) binärer Zahlen.
Ist A(i).e = B(i).e = 1, so wird S um 1 erhöht, wenn A(i).a ungleich B(i).a ist, andernfalls aber wird S um 1 erhöht, wenn A(i).a = B(i).a ist.
Wie man nachrechnen kann, wird auf diese Weise S zur Zahl aller i, für die bei binärer Addition und Multiplikation gilt:
A(i).e + B(i).e = A(i).a • B(i).a .
Wir denken uns jetzt A (= Alice) und B (= Bob) als zwei Personen, welche in jedem Schritt i ein zufällig gewähltes Paar ( e,a ) = ( Eingabe, Ausgabe )
= ( quantenphysikalische Zustandsabfrage, Ergebnis der Abfrage ) produzieren.
Unter der Annahme, dass in jedem Schritt i die beiden Eingaben A(i).e und B(i).e unkorreliert sind, wird S/4n für große n gegen 3/4 konvergieren.
Stellt man sich jetzt aber vor, dass in jedem Schritt
- A(i).e eine von A ersonnene quantenphysikalische Messfrage ist, auf die das von A befragte Quant Q(i,A) mit A(i).a anwortet,
- B(i).e eine von B ersonnene quantenphysikalische Messfrage, auf die das von B befragte Quant Q(i,B) mit B(i).a antwortet,
- und Kommunikation zwischen A und B unmöglich ist,
so zeigt sich im Experiment, dass für hinreichend große n der Bruch S/4n gegen eine Zahl strebt, die
deutlich größer als 3/4 ist,
wenn stets Q(i,A) und Q(i,B) zwei miteinander verschränkte Quanten sind.
Gisin (S. 34):
Echter Zufall hat — anders als der Zufall im Sinne des Würfelspiels bzw. der klassischen Physik — keine Ursache:
Ein echt zufälliges Ergebnis ist in keiner Weise vorbestimmt — doch muss man diese Behauptung nuancieren:
Die Wahrscheinlichkeit der möglichen Ergebnisse i s t vorbestimmt.
Die Tatsache, dass das Bell-Spiel bei nicht verschränkten Quanten nur mit Wahrscheinlichkeit 0,75 (= 3/4) gewonnen wird,
bei miteinander verschränkten Quanten aber mit der deutlich größeren Wahrscheinlichkeit von etwa 0,85 (= 3,41/4), zeigt, dass — gegeben ein Quantensystem Q, eine Messfrage M
und eine darauf mögliche Antwort A —
die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Q die Frage M mit A beantwortet nicht alleine nur von Q's Zustand abhängt,
sondern zudem noch vom Zustand aller mit Q verschränkten Quantensysteme.
Zudem ist damit bewiesen, dass diese abgeänderte Wahrscheinlichkeit aus nur lokaler Sicht heraus nicht begründbar ist.
Widerlegt sei inzwischen auch, — so schreibt Gisin —,
dass sie auf Ursachen zurückführbar sein könnte, die
sich — ausgehend vom Schicksal eines oder aller der mit Q verschränkten Quantensysteme mit endlicher Geschwindigkeit — etwa einer
größer als die des Lichts —
hin zu Q ausbreiten.
Gisin (ab S. 194):
Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Nichtlokalität — ebenso wie die Relativität — unseren vertrauten Zeitbegriff aushöhlt.
Dennoch will Gisin — anders als etwa Zeilinger — nicht von Retrokausalität sprechen — von einer in die Vergangenkeit gerichteten Kausalität.
Sein Erklärungsansatz beruht auf dem Konzept des nichtlokalen Zufalls, der sich an mehreren Orten unabhängig von deren Entfernung manifestieren kann.
Gisin kann und will nicht ausschließen, dass kommende Generationen von Physikern eine noch ganz andere Erklärung finden.
Gisin (2014) zur Historie der Idee quantenphysikalischer Nichtlokalität:
Noch in den 90-er Jahren lehnten es viele Physiker ab, an Quanten-Nichtlokalität zu glauben — und das, obgleich doch schon 1935 Einstein und Schrödinger
mit voller Überzeugung die Meinung verfochten, dass eben dieser Aspekt das Hauptmerkmal der Quantenwelt sei.
Erst ab etwa 1995 begann auch die riesige Gruppe der Festkörperphysiker an Nicht-Lokalität zu glauben und Begriffe wie "nichtlokale Korrelation", "echter
Zufall" und "Bellsche Ungleichung" ernst zu nehmen. Nur die ebenfalls recht große Gruppe der Hochenergiephysiker gibt sich nach wie vor skeptisch.
Sie scheinen der Meinung zu sein, dass nur ihre Physik fundamentale Fragen aufgreife und die Arbeit aller anderen Physiker nicht mehr als ein weit entwickeltes Ingenieurwesen
darstelle.
Was ist ein Quantensystem? Gisin (2014):
Heute gilt die Verletzung einer Bell-Ungleichung als Kennzeichen eines Quantensystems.