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Quantengravitation
Carlo Rovelli (Zitat):
Auch wenn ich es nicht beweisen kann, bin ich überzeugt, dass Zeit nicht existiert:
Ich denke, dass es eine Möglichkeit gibt, das Funktionieren der Natur zu beschreiben, ohne die Begriffe Raum und Zeit zu verwenden. Raum und Zeit werden nur n ä h e r u n g s w e i s e sinnvoll bleiben — ganz so, wie auch der Begriff » Wasseroberfläche « nur grob Sinn macht (wie erkennt, wer versucht, sich die Wassermoleküle vorzustellen: Sieht man genau hin, gibt es keine klar definierte Wasseroberfläche).
Ganz ähnlich verhält es sich mit Zeit und Raum: Beide sind nur makroskopische Näherungen — Illusionen, die unser Bewusstsein geschaffen hat, sich die Realität zu erklären.
Carlo Rovelli (2014):
Unser Zeitbegriff — der thermodynamische Zeitpfeil — entspringt der Tatsache, dass wir stets nur mit makroskopischen Variablen als Mittelwert sehr vieler mikroskopischer Variablen interagieren.
Sobald wir den Mikrozustand eines Systems betrachten, existiert das System — als eben dieser Zustand — zeitlos.
Doch kaum beschreiben wir das System anhand von Mittelwerten zahlreicher Variablen, verhalten sich diese Wert so, als existiere Zeit im Sinne unserer Alltagserfahrung. [ Aber warum? Weil unvollständige Kenntnis Raum für's Dazulernen lässt und wir ständig Neues erfahren? ]
Die Zeit ist folglich kein Grundbestandteil der Welt, aber gleichwohl allgegenwärtig, da die Welt riesig ist und wir sie stets nur aus makroskopischer Sicht kennen.
Wörtlich schreibt Rovelli:
» Die Zeit ist eine Auswirkung der Tatsache, dass wir die physikalischen Mikrozustände der Dinge außer Acht lassen.
Die Zeit ist uns fehlende Information — sie ist unser Unwissen.
In Kapitel 7 habe ich gezeigt, dass sich der Begriff der Zeit für eine physikalische Beschreibung [ im Modell der Schleifen-Quanten-Gravitation ] erübrigt und es letztlich sogar besser ist, ganz auf ihn zu verzichten. Hat man dies erst mal erkannt, wird es einfacher, die Gleichungen der Quantengravitation aufzustellen. «
In Kapitel 7 schreibt er:
Die Forschung der Quantengravitation drehte sich lange nur um Fragen des Raumes, ehe sie den Mut aufbrachte, sich der Zeit zuzuwenden. Erst ab etwa 2000 hat sich das Verständnis der Zeit etwas geklärt.
Der Raum als ein amorpher Behälter für die Dinge verschwindet mit der Quantengravitation aus der Physik. Die Dinge (Quanten) liegen nicht im Raum, sondern im Umfeld der jeweils anderen Quanten. Der Raum ist das Gewebe ihrer nachbarschaftlichen Beziehungen.
Die Gravitationsquanten entwickeln sich nicht in der Zeit, es entsteht vielmehr die Zeit als Folge ihrer Wechselwirkungen.
Wie sich in der Wheeler-DeWitt-Gleichung zeigt, ist die Zeit aus den Gleichungen verschwunden.
Wie der Raum sich als ständig ausgetauschtes Spin-Netzwerk darstellt (S. 191-195):
Die Graphen, die die Quantenzustände des Raumes, d.h. des Gravitationsfeldes, beschreiben, nennt man Spin-Netzwerke. Sie sind durch ein Volumen V für jeden Knoten und ein ganzzahliges Vielfaches von 1/2 für jede Verbindungslinie gekennzeichnet (Spin).
Der Raum [ als Summe dieser Volumina V ] ist diskret. Diese Einsicht bildet den Kern der Theorie der Quantengravitation.
Zwischen den Photonen, d.h. den Quanten des elektromagnetischen Feldes, und den Raumquamten V besteht ein entscheidender Unterschied: Photonen existieren im Raum, während Raumquanten den Raum selbst ausmachen.
Photonen sind durch ihre Position, ihr » Wo sie sich befinden, d.h. welche Raumquanten sie verbinden « charakterisiert, Raumquanten aber haben keinen Aufenthaltsort. Die charakterisieren sich durch die Information, neben welchen anderen Raumquanten sie liegen.
Ich kann mir vorstellen, mich von einem Raumkörnchen an einem Link entlang zu einem anderen zu begeben. Wenn ich so Körnchen um Körnchen weiterschreite, bis ich zum Ausgangskörnchen zurückgekehrt, d.h. einen Rundweg gegangen bin, habe ich eine Schleife — einen » Loop « — abgeschritten. Dies sind die ursprünglichen Loops der Theorie.
In Kapitel 4 habe ich gezeigt, dass sich die Krümmung des raumes messen lässt, indem man bestimmt, ob ein Pfeil, den man über den ganzen Weg mitgeführt hat, in seine ursprüngliche Zeigerichtung oder gedreht an den Ausgangspunkt des Weges zurückkommt. Die Mathematik der Theorie bestimmt die Krümmung für jeden geschlossenen Weg im Spin-Netzwerk. Die ermöglicht eine Einschätzung der Krümmung des Raumes und damit der Stärke des Gravitationsfeldes.
Es sei noch daran erinnert, dass
- die Art, wie sich ein Spin-Netzwerk entwickelt, zufallsgetrieben ist (wir können nur Wahrscheinlichkeiten berechnen).
- Auch müssen wir und den Austausch der Spin-Netzwerke als Auswirkung des Raumes auf die Dinge denken: So wie sich ein Elektron etwa an keinem bestimmten Ort, sondern als Wahrscheinlichkeitswolke an allen Orten befindet, so ist auch der Raum kein spezifisches Spin-Netzwerk, sondern eine Wahrscheinlichkeitswolke über sämtliche möglichen Spin-Netzwerke.
Damit stellt der Raum sich — unterhalb der Planckskala — dar als ein waberndes Gewimmel aus Gravitationsquanten, die.
- wechselseitig aufeinander einwirken,
- alle gemeinsam auf die Dinge einwirken
- und sich in dieser Wechselwirkung als ständig durch Quantenfluktuation umgebautes Spin-Netzwerk manifestieren
Quelle: Carlo Rovelli: Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint (2016), S. 276-281 und ab S. 196 bzw. 191
Carlo Rovelli (2014):
In der Quantenphysik sind viele Messgrößen » quantifiziert « (was bedeutet, dass sie nur bestimmte diskrete Werte annehmen können). Sie zu berechnen nutzt man eine Methode, welche man » Berechnung des Spektrums eines Operators « nennt. Wir — Smolin, Ashtekar und Rovelli — hatten uns zum Ziel gesetzt, ein Modell für die Quantifizierung des Raumes, d.h. der Größe » Volumen « zu finden.
Nach Einsteins Theorie existiert der Raum nur als Gravitationsfeld. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Messgröße » Volumen « auf kleinster physikalischer Skala tatsächlich nur diskrete Werte aufweisen kann, es dann also Volumen- bzw. Raum-"Körnchen" gibt.
Grundidee: Das Gravitationsfeld kann man sich vorstellen als gegeben durch die Menge seiner Feldlinien im Sinne Faradays. Es ist Summe von Teilfeldern, deren jedes erzeugt wird durch 2 Fermionen. Jede Feldlinie dieses Teilfeldes ist — als 3-dimensionales Gebilde — gut vergleichbar mit der Haut eines Apfels, welche die Wurzel seines Stiels mit der Wurzel seiner Blüte verbindet. Die im Teilfeld betrachteten Feldlinien zerlegen den Raum ihn ähnlicher Weise wie die Schalen einer Zwiebel das Innere der Zwiebel partitionieren.
Nun erzeugt aber jedes Paar von Fermionen eine solche Partition des Raumes. Sie alle überlagern sich zu einer Partition, welche den Raum auspflastert mit winzig kleinen "Pflastersteinchen", deren Seitenlängen so in etwa 1 Plancklänge betragen. [ "Zwiebelschalen" mit noch geringerer Dicke zu betrachten, scheint keinen Sinn mehr zu machen, da man davon ausgeht, dass all unsere Physik nur bis hin zur Planckskala Sinn machen kann. ]
Die Berechnungen erwiesen sich als kompliziert, wir beschlossen, Roger Penrose um Rat zu fragen, und zusammen erkannten wir, dass das Konzept der » Spin-Netzwerke «, welche Penrose schon 20 Jahre früher entwickelt hatte, uns einen gangbaren Weg wies.
Die Schleifen existieren nach wie vor: Sie verbinden Ecken der "Pflastersteine", die den Raum partitionieren, und stellen so Kanten jener "Pflastersteine" dar. Jede dieser krummen Kanten gehört zum Rand von mindestens 2 Seitenflächen solcher Pflastersteine (= Raumquanten), kann also auf mehreren Faraday-Linien liegen.
Die Zahl der Farady-Linien, zu denen dieselbe "Kante" gehört, ist eine ganze Zahl, die man als ihren » Spin « bezeichnet. [Aus komplizierten historischen Gründen halbiert man sie, so dass jeder Spinwert ganzzahliges Vielfaches von 1/2 ist.]
Quelle: Carlo Rovelli: Und wenn es die Zeit nicht gäbe? (2018), S. 97-104