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Unsere Welt zu verstehen:  Ursprung Struktur



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Ursprung, Wesen und Struktur der Zeit

nach Carlo Rovelli

 
 
Der theoretische Physiker Carlo Rovelli sagt über die Zeit Folgendes:


Rovelli (2018):
 
Wir sind ausgegangen vom vertrauten Bild der Zeit, nach dem Gegenwart — ein Jetzt — existiert, in dem die Zeit gleichmäßig und in nur eine Richtung zu fließen scheint. Vergangenes ist fix, die Zukunft offen und unbestimmt.
 
Dies, so dachten wir, sei die Grundstruktur der Welt.
 
Bei genauerem Hinsehen zerbröckelt dieses einfache Bild: Die Realität — insbesondere, wenn man sie nicht nur lokal betrachtet — erweist sich als deutlich komplexer:
     
  • Eine dem gesamten Universum gemeinsame Gegenwart gibt es nicht, denn Gleichzeitigkeit ist relativ und Kausalität eine nur teilweise Ordnung (keine lineare) auf der Menge aller die Raumzeit ausmachenden Ereignisse.
     
  • Die elementaren Gleichungen, alles Geschehen physikalisch zu beschreiben, kennen keinen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Er entspringt allein nur der Tatsache, dass unserem Eindruck nach, Vergangenes andere Qualität hat als Zukünftiges.
     
  • Schon in unserer nahen Umgebung vergeht die Zeit keineswegs überall gleich schnell:
       
    • Im Dachboden jeden Hauses vergeht sie schneller als im Keller
       
    • und relativ zu einander bewegte Objekte beobachten ganz grundsätzlich, dass die Uhr des jeweils anderen nicht synchron zur eigenen tickt.

     
  • Wenn man Quanteneffekte vernachlässigt, erscheinen uns Raum und Zeit als Aspekte einer gewaltigen, beweglichen Gelatine (der Raumzeit), in die wir eingebacken sind.
     
  • Schleifen-Quantengravitation zeigt, dass das nur eine näherungsweise Sicht zu sein scheint: Raum und Zeit sind gequantelt. Genauer:
     
  • In der elementaren Grammatik der Welt gibt es weder Raum noch Zeit, sondern nur prozesshaftes Geschehen, welches die Werte physikalischer Größen der sich ständig neue Form gebenden Verteilung von Energie anpasst.
     
    Wie Lee Smolin erklärt, sind hier zwei Regeln am Werk: Stetige Veränderung beschrieben durch Schrödingers Gleichung und unstetige, realisiert durch Quantenfluktuation (Kollaps — d.h. spontane Neudefinition — der Wellenfunktion).
     
  • Auf der wirklich grundlegenden Ebene also — soweit wir sie heute zu erahnen beginnen — gibt es demnach wenig, was unserer Erfahrungswelt ähnlich ist: Es gibt weder eine spezielle Variable » Zeit «, noch einen physikalishen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft, und sogar die Raumzeit zerbröckelt. So wie Nebel beim genauen Hinsehen als Wassertröpfen besteht, besteht Raumzeit aus Ereignissen:
     
     
     
    Es gibt keine » statische « Welt, die unveränderliches » Blockuniversum « wäre.
     
    Das Gegenteil trifft zu:

     
    Die Welt ist Geschehen — keine Menge von Dingen.

 
Es gibt keine Zeit, welche alle Geschehnisse linear anordnet — schon gar nicht weiträumig gesehen.

 


 
Soweit Rovellis eigene Zusammenfassung der Kapitel 1 bis 7 seines Buches. In Kapitel 8 bis 12 erklärt er dann, wie es zu unserem Zeitempfinden aus der makroskopischen Sicht unseres Alltags kommt:


Rovelli (2018):
 
Die Überraschung — so Rovelli — bestehe darin, dass wir selbst uns dieses grobe, allzu einfache Bild der Zeit schaffen:
 
Aus unserer Perspektive sehen wir ein in der Zeit ablaufendes Weltgeschehen, welches wir aber nur unscharf wahrnehmen, da unsere Interaktion mit anderen Teilen der Welt nur allzu partiell ist und sein kann.
 
Die Unbestimmtheit der Quanten setzt der Schärfe unseres Bildes sogar ganz prinzipiell eine Grenze.
 
Die sich hieraus ergebende Unkenntnis führt zum Begriff der » thermodynamischen Zeit « sowie der » Entropie «. Letztere quantifiziert unser fehlendes Wissen über Mikrozustände.
 
Die Entropie der Welt — bezogen auf uns — nimmt ständig nur zu, und nur deswegen kennt unsere Zeit [ als die thermodynamische ] nur eine Richtung.
 
Somit können wir am Ende anstatt von vielen möglichen Zeiten nur von einer einzigen reden: von derjenigen unserer Erfahrung. Nur sie ist universell, gleichförmig und von nur einer Richtung. Sie ist Näherung einer Näherung einer Näherung einer korrekten Beschreibung der Welt, geschaffen aus der besonderen Perspektive von uns Kreaturen, die wir uns am Wachstum der Entropie nähren, in dem wir das Fortschreiten dieser Zeit verankert sehen.
 
Und so gilt für uns, wie es im Kobelet heißt, » eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben «.
 
 
Das also ist die Zeit für uns:
    ein geschichtetes, komplexes Konzept mit vielfältigen unterschiedlichen Eigenschaften, die sich aus unterschiedlich genauer Betrachtung — und somit aus unterschiedlicher Näherung — ergeben.

 
 
So also verstehe ich — Carlo Rovelli — die physikalische Struktur der Zeit, nachdem ich mich ein Leben lang mit ihr befasst habe.
 
Viele Aspekte meiner Sichtweise sind solide, andere plausibel und wieder andere gewagte Versuche, zu einem Verständnis des Gegenstandes zu kommen:
     
  • Durch zahllose Experimente abgesichert ist, wie Gravitation den Lauf der Zeit bremst, ihre Relativität, dass die Grundgleichungen der Physik keine Zeit benötigen, die Beziehung zwischen Entropie und der Richtung des Fließens der Zeit, und nicht zuletzt, dass zwischen Entropie und [quantenphysikalischer] Unbestimmtheit eine Beziehung besteht.
     
  • Dass das Gravitationsfeld Quanteneigenschaften aufweist, ist eine allgemein geteilte Überzeugung in der Physik — auch wenn bisher nur theoretische Argumente sie stützen.
     
  • Plausibel ist das Fehlen einer Zeit-Variablen in den Grundgleichungen [wie im zweiten Teil des Buches erörtert] — auch wenn um die Form der Gleichungen noch gerungen wird.
     
  • Der Ursprung der Zeit in der Nicht-Kommutativität der Quanten, die thermodynamische Zeit und dass die beobachtbare Zunahme der Entropie von unserer Interaktion mit dem Universum abhängt, sind Ideen, die faszinieren, aber alles andere als gesichert sind.
     
  • Tatsache jedenfalls ist, dass die Zeitstruktur unserer Welt vom naiven Bild, das wir uns von ihr machen, abweicht.

 
Viele Diskussionen über den Zeitbegriff sind nur deshalb konfus, da seine Vielschichtigkeit, sein wirklich komplizierter, erst durch Einstein aufgedeckter Aspekt, unberücksichtigt bleibt. Der Fehler besteht darin, zu übersehen, dass seine verschiedenen Schichten von einander uabhängig sind.
     
  • Das Geheimnis der Zeit beunruhigte Philosophen schonn immer:
       
    • Parmenides (etwa 500 v. Chr.) wollte der Zeit die Realität absprachen,
       
    • Platon (etwa 350 v. Chr.) ersann ein Reich der Ideen außerhalb der Zeit, und
       
    • Hegel (1770-1831) spricht vom Augenblick, in dem der Geist die Zeitlichkeit überwindet.
       
    • Mit Hans Reichenbach: The Direction of Time (1956) ist eines der scharfsinnigsten Werke über das Wesen der Zeit entstanden.
       
    • Der Menschen zutiefst emotionale Haltung der Zeit gegenüber hat eher zum Errichten philosophischer Kathedralen als zu einer Auseinandersetzung auf Basis von Logik und Vernunft beigetragen.
       
    • Die Physik aber hilft uns, Schicht um Schicht in das Geheimnis vorzudringen. Sie tut das, indem sie uns klar macht, wie weit sich die Zeitstruktur der Welt von der unserer intuitiven Vorstellung unterscheidet.

     
    Vielleicht ist ja unsere emotionale Haltung der Zeit gegenüber genau das, was für uns die Zeit ausmacht.
     
    Ich glaube nicht, dass es noch sehr viel mehr zu verstehen gibt. Genauer:
     
    Man kann sich weitere Fragen stellen, sollte aber darauf achten, dass sie sich gut formulieren lassen. Wo ein Problem nicht präzise formuliert werden kann, handelt es sich meist nur um ein Scheinproblem. Die Zeit haben wir gefunden, sobald wir auf alle ihre sagbaren Eigenschaften gestoßen sind.
     
     
     
     
    Carlo Rovelli zum Wesen der Zeit

     
     
    Quelle: Carlo Rovelli: Die Ordnung der Zeit, Rohwohlt 2018, S. 159-166