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Unsere Welt zu verstehen:  Emergenz



 Beitrag 0-471
 
 

 
Was genau ist Emergenz?
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Unter Emergenz versteht man das Phänomen, dass zunächst unabhängig existierende Teilchen sich spontan — als Gesamtheit — zusammentun können, es so zu neuer Form kommt, und sie i.A. Eigenschaften zur Folge haben wird, welche einzeln für jedes der Teilchen nur noch selten Sinn machen.
 
Rolf Heilmann definiert: » Information ist Maß für vorhandene Form. « Wo Form zerfällt, geht Information verloren.


Rolf Heilmann (2015, S. 116):
 
Atome können Moleküle bilden, die sich zu Zellen zusammenfinden können, woraus dann Gewebe, Organe und schließlich ganze Lebewesen werden.
 
Bei Menschen kommt es dann sogar zu Bewusstsein und sozialem Gefüge.
 
Jeder dieser Übergänge von einer Ebene auf eine höhere, kompliziertere hat neue Form mit neuen Eigenschaften des so Geformten zur Folge.
 
Was wir Emergenz nennen, ist das Auftauchen solch neuer Eigenschaften. Es sind Eigenschaften, die nur dem Verband der Objekte, die sich hier kooperierend zusammenfanden, zukommen können.
 
 
Magnetismus ist ein gutes Beispiel hierfür:
    Wenn wir einen Magneten zerteilen, stellt sich jeder der so entstandenen Teile wieder als Magnet mit zwei Polen dar. Es scheint also so, dass selbst noch jedes Atom eines Magneten magnetisch ist. Und das stimmt auch: Jedes reagiert wie eine kleine Kompassnadel.
     
    Sie beeinflussen sich durch ihre Magnetfelder gegenseitig und richten sich so an einander aus: sie » kooperieren « mit dem Effekt, dass ein großer Magnet entsteht, dessen Stärke sie nur als Gemeinschaft erreichen können.
     
    Wird nun aber magnetisches Material ordentlich erhitzt — bei Eisen auf etwa 800 Grad Celsius —, geraten die Atome in derart starke Bewegung, dass keine Kopplung und keine gemeinsame Ausrichtung mehr möglich ist: Die kleinen Magnetfelder heben sich gegenseitig auf, der Magnetismus des Materials als Ganzem verschwindet.
     



Rolf Heilmann (2015, S. 166-168):
 
Für die Übergänge von einer Strukturebene auf die nächst höhere interessieren sich vor allem Festkörper-Physiker, denn sie können sich die neu entstehenden bzw. verloren gegangenen Qualitäten wenigstens ansatzweis erklären.

     
    Dass Milliarden mal Milliarden von Atomen spontan — ohne unser Zutun — beim Abkülen zu einem perfektem Gitter erstarren (sich also anordnen), grenzt schon an ein Wunder.
     
    Wir müssen ja bedenken, dass die Atome selbst im Gitter noch mit extrem hohen Geschwindigkeiten hin und her schwingen.

Doch nicht nur beim Übergang einer Flüssigkeit zum Festkörper finden wir derart frappierende Ordnungsphänomene. Wie oben in ersten Beispiel schon klar wurde, richten sich in manchen Strukturen Atome plötzlich so aus, dass der ganze Körper » magnetisch « wird.
 
Oder es verschindet ab einer bestimmten Temperatur schlagartig der elektrische Widerstand im Material, so dass sich die Elektronen dann ohne irgendwelches Hemmnis durch die Drähte bewegen.
 
Solch wunderlichen Vorgänge kann es nach dem klassischen Verständnis von Physik gar nicht geben.
 
 
Bevor man sich nun aber an die Erklärung immer komplexerer Vorgänge heranwagt, macht es Sinn, erst mal die emergenten Prozesse zu studieren, die zu einfachen, regelmäßigen Strukturen führen.
 
Einer der prominentesten Theoretiker auf diesem Gebiet ist der Amerikaner Philip Warren Anderson (geb. 1923), der für seine Arbeiten den Nobelpreis erhielt.
 
Schon 1972 schrieb er in einem viel beachteten Artikel im Fachblatt Science » More is differentMehr ist anders «.
 
Er weist dort darauf hin, dass sich mit jedem Übergang zu einer neuen Qualität die geometrischen Verhältnisse in den Strukturen radikal ändern. Es treten die schon bei Magneten erwähnten Symmetriebrüche auf.
 
Da sich solche Übergänge nicht nur bei Festkörpern, sondern in vielen Strukturen unserer Welt abspielen, sieht Anderson nur im kooperativen Miteinander der Wissenschaftler eine Chance, das Geheimnis der Emergenz zu ergründen.
     
    Anderson ist der Meinung, dass "die Arroganz der Teilchenphysiker" jetzt ja wohl hinter uns liege, "aber wir müssen uns noch von der mancher Molekular­biologen erholen, die darauf aus zu sein scheinen, alles über den menschlichen Organismus nur auf Chemie zu reduzieren — von einer gewöhnlichen Erkältung über die mentalen Erkrankungen bis hin zu religiösen Gefühlen ...".
     
    Robert B. Laughlin (geb. 1950) — ebenfalls Nobelpreisträger und ein entschiedener Verfechter der überragenden Bedeutung der Emergenz — gibt ihm recht, denn er schrieb: "Die Gesetze der Quantenmechanik, die Gesetze der Chemie, die Gesetze des Stoffwechsels und die Gesetze der Häschen, die in den Innenhöfen meiner Universität vor Füchsen flüchten, gehen alle auseinander hervor, ... ".

 


 
Quelle: Rolf Heilmann: Auch Physiker kochen nur mit Wasser, Herbig 2015
 
Prof. Rolf Heilmann forschte in Leipzig über die Wechselwirkung von Licht mit Kristallen, entwickelte später Lasersysteme für Satelliten und lehrt heute an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in München Physik.


 


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Wie es zu Emergenz – spontan entstehender Ordnung – kommt


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