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Unsere Welt zu verstehen:  Begriff Objekte



 Beitrag 0-58
 
 

 
Zum Begriff physikalischer Objekte
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Die Wurzeln der Disziplin Theoretische Physik reichen zurück bis in die Zeit der Vorsokratiker (etwa 500 v.Chr.). Spätestens seit Isaac Newton bedient sich die Theoretische Physik zum Aufschreiben ihrer Ergebnisse zwingend der Mathematik. Der mathematische Zweig der Differentialrechnung etwa wurde durch Newton (und parallel dazu durch Leibniz) zu eigens diesem Zweck erfunden und entwickelt.
 
Dennoch sehen gerade die Vertreter der Theoretischen Physik sich häufig — und weit mehr als andere Wissenschaftler — dem Vorwurf ausgesetzt, was sie da vorbrächten sei einfach nur eine mehr oder weniger haltlose Vermutung und allzu weit hergeholt. Dem ist entgegenzuhalten, dass solche Vermutungen vor allem dem Zweck dienen, keinen Lösungsansatz zu übersehen, nur weil er so gar nicht naheliegt oder so gar nicht dem entspricht, was unsere Erfahrung uns nahelegt. Dass die meisten ihrer Denkansätze die Natur missverstehen, ist den theoretischen Physikern bewusst. Jede Idee dennoch zu prüfen und nach Argumenten zu suchen, sie zu widerlegen, ist dennoch ihre Pflicht, denn schon allzu oft hat ganz extrem Unwahrscheinliches sich später doch als wahr erwiesen.
 
 
Heute also gilt: Theoretische Physik ist kreative Anwendung hoch komplizierter mathematischer Konstrukte mit dem Hintergedanken, dass die Mathematik uns hilft, die Welt in der wir leben, zu entdecken, zu verstehen und ihrem Verhalten uns gegenüber vorhersagbar zu machen.
 
Aus mathematischer Sicht ist jedes physikalische Objekt ein
 
 
Gegenstand ( Eigenschaften, Theorie )

 
wobei
  • sich der Gegenstand — als gedankliches Bild einer Kategorie physikalischer Objekte gleicher Art — über die genannte Menge von Eigenschaften definiert,
     
  • jede dieser Eigenschaften durch eine Zahl quantifizierbar ist
     
  • und die so erhaltenen Zahlen (Eigenschaftswerte) der genannten Theorie gehorchen.
     
  • Die Theorie wiederum ist nichts anderes als ein Gleichungssystem, welches beschreibt, in welcher Abhängigkeit mögliche Werte der einzelnen Eigenschaften zueinander stehen: Jede Lösung des Gleichungssystems beschreibt — als Menge von Eigenschaftswerten — genau eine Objektinstanz.

 
Streng genommen also ist jede Lösung der Theorie — jedes konkrete physikalische Objekt —
 
eine Abbildung der Menge aller Eigenschaften in die Menge aller reellen Zahlen.

 
 
Da nun aber Objekte im Sinne der Physik so gut wie immer zeitabhängig betrachtet werden — und sich ihre Eigenschaftswerte mit der Zeit ändern — werden Physiker sehr oft erst dann von einer Lösung der Theorie sprechen, wenn sie eine ganze Schar mathematischer Lösungen meinen, deren Scharparameter der Zeitwert ist.
 
Noch allgemeiner: Wo z.B. die Stringtheoretiker behaupten, ihre Theorie hätte so etwa 10500 Lösungen (deren jede ein konkrete Instanz des Gegenstandes "Raumzeit mit allen über die gesamte Zeit hinweg darin existierenden Dingen" beschreibt), ist damit eine Schar von Lösungen gemeint, die mindesten zwei Scharparameter hat: die Zeit einerseits und die sog. Kopplungskonstante andererseits.
 
 
Wer sich nun aber vor Augen führt, dass jedes Gleichungssystem mit mehr als zwei Unbekannten — nennen wir sie Z und K in Anlehnung ans eben gegebene Beispiel — sehr viele Lösungen haben kann, die aber alle in Z und K denselben Wert haben, so wird klar, dass jede Schar von Lösungen der Theorie selbst wieder Vereinigung kleinerer, aber immer noch beliebig großer Scharen sein kann.
 
    Diese Tatsache übringens führt nicht selten zur Entdeckung neuer, bis dahin völlig unbekannter Phänomene. Beispiel für ein auf diesem Wege entdecktes Phönomen ist Antimaterie. Paul Dirac konnte 1928 die Existenz eines » positiv geladenen Elektrons « (man nennt es heute das Proton) vorhersagen, da sie ihm auffiel, dass eine von ihm betrachtet quadratische Gleichung statt nur einer Lösung — die die Ladung des Elektrons beschrieb — gleich deren zwei hatte, die sich nur im Vorzeichen unterschieden.

 
Wir sehen: Die Aussage der Stringtheoretiker, ihre Theorie hätte wohl so etwa 10500 Lösungen, sagt rein gar nichts. Das einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass die Stringtheorie — sollte ihr Gleichungssystem denn jemals endgültig formuliert sein — sicher noch weit mehr Lösungen haben wird als Einstein Feldgleichungen (d.h. die Allgemeine Relativitätstheorie). Schon die aber hat unendlich viele  g e s c h l o s s e n e  Lösungen — z.B. die, welche man das Gödel-Universum nennt.
 
Hinzu kommt: Die meisten Lösungen der Allgemeinen Relativitätstheorie sind überhaupt nicht in geschlossener Form angebbar (als Formel also), sondern nur mit Hilfe komplizierter Rechnung als Menge der sie darstellenden Eigenschaftswerte schrittweise (und stets nur näherungsweise) konstruierbar.
 
 
Nun ist allerdings zu beachten, dass Lösungen, die der Physiker sucht, fast immer Lösungen eines bestimmten Anfangswertproblems sein sollen.
 
Was das bedeutet, beschreibt Martin Bojowald wie folgt (unter der Voraussetzung, dass der betrachtete Gegenstand ein Modell unseres Universums sei):
 


Bojowald ( S. 309-311 seines Buches Zurück vor den Urknall ):
 

In der Kosmologie spielt die Eindeutigkeit der Lösung einer Theorie der Raumzeit eine wichtige Rolle — denn schließlich können wir ja nur ein einziges Universum beobachten: da, in dem wir leben. Leider erhält man Eindeutigkeit nie umsonst, sondern stets nur über zusätzliche (die Theorie einschränkenden) Annahmen, die mehr oder weniger natürlich erscheinen mögen. Sie treten in zwei prinzipiell unterschiedlichen Rollen auf:
  • als Annahmen, die zum Aufstellen einer Theorie nötig sind,
  • aber auch als Annahmen zur Auswahl von Lösungen der dann schließlich gegebenen Theorie.

Zu Annahmen der zweiten Art kommt man über eine standardisierte Operation, die eng mit der mathematischen Art der Gleichungen zusammenhängt, die in in physikalischen Gesetzen Verwendung finden: Es sind dies (meist partielle) Differential-, hin und wieder aber auch Differenzengleichungen, die zu bestimmen haben, wie sich eine Größe ändert, wenn man sich in Raum oder Zeit — oder im Sinne eines anderen abstrakten Parameters — bewegt.
 
Um die Lösung eindeutig zu machen, reicht es nun aber nicht, lediglich zu wissen, wie sich sich ändert, wenn man sich bewegt: Man benötigt zusätzlich einen Standpunkt, von dem aus solche Änderungen ausgehen. Er kann sein
  • eine Anfangsbedingung (d.h. man legt fest, welchen Wert die untersuchte Größe zu dem  Z e i t p u n k t  hat, von dem man ausgeht)
  • oder eine Randbedingung (was bedeutet, dass man festlegt, von welchem Wert der Größe man am Rande des jeweils untersuchten  R a u m g e b i e t e s  ausgeht)
Anfangs- und Randbedingung können als das theoretische Äquivalent der Entscheidung eines Experimentators zu Aufbau und Durchführung seines Experiments angesehen werden. Die Theorie selbst aber soll, mindestens näherungsweise, dem Verhalten der Natur entsprechen — so wie uns auferlegte Naturgesetze es erwarten lassen.
 
Ein Experiment ist dann immer eine spezielle Situation in der Natur, die durch den Experimentaufbau (z.B. ein Pendel) und die gewählte Ausgangsposition (z.B. die Position, von der aus man das Pendel frei schwingen lässt) spezifiziert ist.
 
Also: Die Theorie wird durch die Wahl eines bestimmten natürlichen Phänomens fixiert, aber erst seine spezifische Realisierung liefert die Randbedingungen, von denen ausgehend man unter Berücksichtigung seiner allgemeinen Möglichkeiten eine Lösung sucht.
 


Festzuhalten bleibt:
 
 
Wer von der Lösung einer Theorie spricht, meint damit i.d.R.
 
eine Lösung, die gewisse Randbedingungen respektiert,
 
die aber keineswegs aus der Theorie selbst kommen.
 
 
Lösungen solcher Art beschreiben das betrachtete physikalische Objekt dann meist auch nur lokal.

 
 
 
Schönes Beispiel hierfür ist die Schwarzschild-Metrik (als die Lösung von Einsteins Feldgleichungen, die 1916 als erste gefunden wurde): Karl Schwarzschild betrachtete den Außen­raum einer kugelsymmetrischen Massenverteilung. Hier verschwindet der Energie-Impuls-Tensor und die Metrik hängt nur von einer radialen Koordinate ab. Die resultierende Raum-Zeit-Struktur nennt man heute ein » Schwarzes Loch «. Sie ist durch einen sog. Ereignishorizont gekennzeichnet, der die zentrale Singularität abschirmt.
 
Noch weit exotischer ist eine von Kurt Gödel gefundene Schar von Lösungen: der sog. » Gödelsche Kosmos «. Er lässt geschlossene Zeitlinien zu und wurde von Einstein als eher nicht die wirkliche Welt beschreibend eingestuft (genauer müsste man eigentlich sagen "keine wirklich existierende  R e g i o n  unserer Welt").


 


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Objekt vs Modell (in der Physik)


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